Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum Jahrestag des 17. Juni 1953
Rede 17.06.2022
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Ort
Friedhof Seestraße, Berlin-Wedding
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Rednerin oder Redner
Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen Klara Geywitz
Es gilt das gesprochene Wort.
Exzellenzen,
sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin Giffey,
sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin Pau,
sehr geehrter Herr Staatsminister Schneider,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Abgeordnetenhauses von Berlin,
sehr geehrter Herr Hobrack,
sehr geehrte Angehörige von verstorbenen Teilnehmern des Volksaufstandes, Zeitzeugen und Vertreter von Opferorganisationen,
meine Damen und Herren,
Martin Luther King hat einmal sinngemäß gesagt: "Der Bogen des moralischen Universums ist lang. Aber er neigt sich hin zur Gerechtigkeit."
Das heißt also, man soll sich gewiss sein: Auch wenn man schwer gegen die eigene Unterdrückung kämpft, am Ende wird die Gerechtigkeit immer siegen. Wie recht er damit hatte, zeigt der Kampf der Menschen in der ehemaligen DDR für Freiheit und ein besseres Leben. Wir wissen heute, dass dieser Kampf am 9. November 1989 glücklich ausging. Die Menschen, die am 17. Juni 1953 auf die Straße gingen, wussten es nicht. Umso größer ist unser Respekt vor ihrem Mut und umso mehr erweisen wir den Opfern von damals heute die Ehre.
Der Aufstand begann zwar zunächst mit einem Protest von Bauarbeitern in Ostberlin gegen die Erhöhung ihrer Arbeitslast, aber schon bald wurde dabei auch die Forderung nach freien Wahlen laut. Und es schlossen sich immer mehr Menschen an. Zunächst gab es lediglich ein paar hundert Demonstrierende, doch innerhalb kürzester Zeit waren zehntausende auf den Straßen von Berlin. Von hier aus griffen die Demonstrationen schnell auf das ganze Land über. In mehr als 700 Städten und Gemeinden erhoben sich insgesamt hunderttausende Menschen. Doch so schnell und hoffnungsvoll diese Bewegung aufzublühen schien, so unerbittlich wurde sie vor allem von den sowjetischen Panzern niedergeschlagen. Am Ende gab es unzählige Verletzte und viele Tote. Schätzungen sprechen von über 50 bis über 125 getöteten Menschen. Ihre genaue Zahl konnte bis heute nicht ermittelt werden. Doch wir werden sie nicht vergessen.
Sie werden für immer einen Platz im gemeinsamen Gedächtnis unsers Landes haben.
In der DDR wirkte der 17. Juni lange nach. Noch am selben Tag begann eine Verhaftungswelle durchs ganze Land zu rollen. Es folgten Schauprozesse, lange Haftstrafen für viele Menschen und ein Ausbau des Überwachungsapparats. Somit war klar: Jeder künftige Versuch, für demokratische Veränderungen einzutreten, würde wieder im Keim erstickt werden. Dies bestätigte sich in den folgenden Jahren durch die ebenfalls brutale Niederschlagung ähnlicher Aufstände in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen.
Man musste sich damit abfinden und irgendwie weiterleben. Spätestens seit dem Bau der Mauer gab es dann auch keine Möglichkeit mehr, wegzugehen. Wer die Flucht wagte, bezahlte oft mit dem Leben. Viele Menschen in der DDR versuchten, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen. Aber innerlich sträubten sie sich sehr gegen das Regime.
1989 zeigte jedoch die riesige Eisdecke des Kalten Krieges, die so lange jedes Aufbegehren unter sich begraben hatte, plötzlich erste Risse. Dann gab es kein Halten mehr. Viele Menschen in der DDR stemmten sich mit ganzer Kraft von unten dagegen, um das Eis dieses Mal zu brechen. Anders als 1953 blieb die Übermacht der sowjetischen Panzer dieses Mal in der Kaserne.
Das war eine einmalige historische Chance. Die Ostdeutschen haben sie ergriffen. Sie haben ihre Unterdrücker abgeschüttelt, die Mauer eingerissen und den Weg zur Wiedervereinigung geebnet. Dies ist in den vergangenen Jahren leider viel zu selten und viel zu wenig deutlich gesagt worden: Die Ostdeutschen waren es, die den Lauf der Geschichte verändert haben. Nicht nur ihrer Geschichte, sondern der Geschichte unseres ganzen Landes. Darauf können sie sehr stolz sein.
Nach der Wende entwickelte sich Vieles in Ostdeutschland zwar deutlich besser als die anderen ehemaligen Ostblock-Staaten, die eben kein starkes westdeutsches Schwesterland an ihrer Seite hatten. Aber auch hier breiteten sich plötzliche Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit aus. Viele Menschen hatten mit unerwartet schweren Umbrüchen in ihrem Leben zu kämpfen. Insgesamt ist die Deutsche Einheit ein unglaubliches Glück und eine große Erfolgsgeschichte. Doch welcher persönliche Kraftakt für viele Menschen in Ostdeutschland damit auch verbunden war, wurde in der Öffentlichkeit bisher viel zu wenig gewürdigt.
Deshalb ist es gut, dass die neue Bundesregierung in Kürze ein eigenes Zentrum aufbauen wird, dass sich genau mit diesem Transformationsprozess beschäftigen soll, auch um daraus die richtigen Erkenntnisse für die Zukunft zu ziehen. Die Leistung der Menschen in Ostdeutschland für das Erringen und Umsetzen der Wiedervereinigung sollte künftig viel stärker Teil unseres gemeinsamen Bewusstseins für unsere gesamtdeutsche Geschichte sein.
Eine entscheidende Rolle in unserer gemeinsamen, gesamtdeutschen Geschichte spielt der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 - und die Menschen, die dabei ihr Leben verloren. Ihnen gedenken wir in tiefer Demut. Heute und an jedem 17. Juni.
Während wir heute hier sind, haben wir zugleich alle noch ein weiteres Bild in unseren Köpfen: Nicht weit von hier – in einem anderen Land Europas – kämpfen Menschen gerade um ihr Leben; werden beschossen, ausgebombt und vertrieben. Es gibt zwar natürlich keinen Zusammenhang zwischen dem damaligen Volksaufstand in der DDR und dem aktuellen Krieg in der Ukraine, doch wir können heute dazu nicht schweigen. Wir verurteilen Wladimir Putins Angriffskrieg auf Schärfste. Den Menschen in der Ukraine gilt unsere vollste Solidarität. Möge sich der Bogen des moralischen Universums schnell hin zur Gerechtigkeit neigen.
In ganz Deutschland leben wir heute wieder überall in Freiheit und Demokratie. Dies feiern wir jedes Jahr am 3. Oktober.
Der 17. Juni jedoch erinnert uns jedes Jahr daran, dass dies nicht selbstverständlich ist, sondern ein kostbares Gut.